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Ein paar Anmerkungen zum Ende von 1914Tweets

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Es ist exakt ein Jahr her, als wir eine folgenschwere Entscheidung fällten: Das Jahr 1914 als Twitter-Chronologie neu zu erzählen. Name: 1914Tweets. Es war ein Höllenritt. Es war begeisternd. Es hat sehr viel Spaß gemacht. Es war sehr viel Arbeit. Die positiven Reaktionen von sehr vielen Leuten haben uns überwältigt und angespornt weiter zu machen, nicht nachzulassen, noch besser zu werden, noch besseres Material zu recherchieren. Hier ein paar Anmerkungen zum Ende des Projekts.

Die unerwartete Dynamik, der unerwartete Hass
Wir hatten von Beginn an Glück: schon nach zwei Tagen 1.000 Follower. Da war natürlich die ursprüngliche Vorstellung, es erstmal langsam anzugehen und mal schauen, was draus wird, sofort obsolet. Anders als gedacht, war das Interesse also riesig. Nun mussten wir liefern. Um so mehr, als wir in der zweiten Januarwoche auf den Radar der einschlägigen Experten gerieten: Die professionellen Geschichtsvermittler nahmen uns auseinander. Mir war bei Beginn nicht klar, dass es bereits eine ausführliche, sehr theoriegetriebene Diskussion über das Werkzeug Twitter als Geschichtsmedium gibt. Stichwort: Reentweetment. Wir gerieten sofort zwischen die Fronten. Ich möchte es hier noch mal ganz klar sagen: Es war und ist mir verdammt egal, was diese Damen und Herren denken und zu sagen haben. Unterstützung haben wir jedenfalls von dieser akademischen Seite fast gar nicht erhalten. Fast, weil doch ein paar Interessierte uns verteidigt haben. Denen möchte ich ausdrücklich danken. Andere haben uns ihre Verachtung, ihren Hass spüren lassen, uns billige Sensationshascherei und Exploitment vorgeworfen oder auch unverhohlenes kommerzielles Eigeninteresse. Es ging so weit, dass uns von der Bühne der re:publica 14 prophezeit wurde, dass das Projekt scheitern wird. Ich denke, das Gegenteil ist eingetreten.

Ich sage es hier ganz deutlich an die Adresse dieser destruktiven, akademischen Welt: Go fuck yourself!

Die meisten dieser Leute zerreden lieber alles, machen nichts öffentliches und daher keine Fehler. Es wird einfach zu wenig Kreatives versucht und geschaut, was passiert. Es ist genau diese behäbige, selbstgefällige Bedenkendenke, die mich an der Geschichtswissenschaft in Deutschland abstößt. Diese Leute können es nicht ertragen, dass irgendetwas außerhalb ihres akademischen Elfenbeinturms passiert, ohne ihre Regeln und verkopften Rituale, die sie sich selbst gegeben haben und die einer öffentlich relevanten Geschichtsschreibung nur im Weg stehen.

Hinfort mit all diesen fesselnden Apparaten! Fröhliche Wissenschaft! Wir wollen professionell und kreativ Geschichte erzählen und führen keine wissenschaftlichen Diskussionen! Wir bringen Ergebnisse und keine Theorieprotokolle. Wir wollen Spaß haben, weil wir Historiker aus Leidenschaft sind. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass hunderte von Geschichtsblogs noch nicht mal ansatzweise versucht haben, was eigentlich unbedingt erforderlich wäre: Geschichte im Internet zu erzählen. Jetzt, da Millionen Dokumente online und allgemein zugänglich vorliegen, ist es an der Zeit, diese professionell zu nutzen, spannend zu präsentieren, anschaulich zu verarbeiten. Das haben wir versucht.

Das Projekt nimmt Form an.
Wie das so ist bei einem Projekt, das man aus einer Laune heraus startet: Es verwandelt sich im Lauf der Zeit enorm. Als wir begannen, hatten wir keinen einzigen Tweet geschrieben. Es gab nur die Idee, das Jahr 1914 in Tweets nachzuerzählen. Und zwar nicht als SpOn 1914 sondern aus der Perspektive eines allwissenden Erzählers. Das ist schwierig durchzuhalten und führt immer wieder zu Widersprüchen und Gratwanderungen. Ein Beispiel: Wir haben das Foto von Hitler aus dem August 1914 nicht gebracht. 1914 war Hitler ein Niemand. Erst nach dem Krieg betrat er die politische Bühne. Wir haben entschieden, das als irrelevant für unser Projekt einzustufen. Ähnlich wie Geburtstage von Leuten, die später zu Personen des öffentlichen Interesses wurden. Analog dazu haben wir nie Fakten gebracht, die über den Tag hinausweisen. Ein zunächst eisern durchgehaltenes Prinzip hingegen mussten wir punktuell aufgeben: Nur Dinge zu erzählen, die sich auf den Tag genau datieren lassen. Dann hätten wir hunderte Fotos nicht veröffentlichen können, von denen man nur noch ungefähr den Monat ihrer Entstehung sicher weiß. Das wäre ein zu großer Verlust gewesen und letztlich für das Projekt kontraproduktiv. Denn wir wollen es ja so plastisch wie möglich gestalten.

Hitler 1914

Ein Foto, das wir nicht veröffentlicht haben: Adolf Hitler (rechts mit Schnurrbart) vermutlich Ende August / Anfang September 1914 in Frankreich. 

Geschichte in Hashtags
Wir haben Hashtags genutzt, so wie man das eben auf Twitter macht, damit Zusammenhänge auf den ersten Blick deutlich werden. Zum Beispiel wenn wir Reichstagsdebatten vertwittert, Sequenzen aus Tagebüchern oder Feldpostbriefen zitiert und Entwicklungen nachverfolgt haben, die sich über einen längeren Zeitraum hinziehen, wie den mexikanischen Bürgerkrieg oder die Liman-Sanders-Affäre. Geschichte in Hashtags — das ist nun wirklich ganz neu als historiographisches Format. Übrigens ein typisches Element, das wir erst im Laufe der Zeit entwickelt haben, wie so manches erst während der Umsetzung entstanden ist. Wir haben viel probiert, um Dinge möglichst lebendig zu inszenieren. Einiges hat funktioniert, anderes nicht. Von daher würden wir vielleicht heute so manches anders machen. Man lernt eben dazu, wenn man sich auf so ein Projekt einlässt.

Die Quellen
Ein Vorwurf aus der akademischen Ecke kam immer wieder: Ihr verlinkt nicht auf die Quellen; so geht das nicht, das ist unwissenschaftlich. Wir halten dem entgegen: Links nerven auf Twitter nur, nehmen Platz weg, lenken von der eigentlichen Story ab, die wir erzählen wollen. Wir haben ein anderes Prinzip verfolgt: Jeder Inhalt eines Tweets ist googlebar. Das werden die geneigten Leserinnen ja wohl noch hinkriegen, so viel kann man verlangen. Jeder Tweet ist also quasi die versteckte Motivation, sich weiter zu informieren, wenn man etwas vertiefen möchte. Trotzdem haben wir natürlich ausgiebig mit Quellen gearbeitet. Das ist ja die eigentliche Stärke des Projektes, diese Zeugnisse auszubreiten. Ohne die inzwischen millionenfach vorliegenden Schriftstücke aus dieser Zeit wäre das Projekt gar nicht umsetzbar gewesen. Zu nennen sind hier vor allem umfangreiche Sammlungen digitalisierter Tageszeitungen aus Österreich und Frankreich, ein paar (1, 2, 3) aus Deutschland oder auch den USA. Problem allerdings war, dass ziemlich exakt mit dem Kriegsbeginn diese Quellen kaum noch nutzbar waren: Die Propaganda und die Zensur haben auf allen Seiten aller Kriegsparteien die Wirklichkeit manipuliert. Daher sind wir ab diesem Zeitpunkt fast vollständig auf die Augenzeugenberichte von Kriegsteilnehmern umgestiegen, insbesondere Tagebücher, da auch die Feldpost zensiert wurde. Deshalb war die Europeana, in der man viele persönliche Zeugnisse findet, von außerordentlicher Bedeutung. Ansonsten haben wir viel mit den Fotos der Library of Congress gearbeitet, die online komplett vorliegenden Reichstagsprotokolle genutzt und viele Detailfakten aus der Wikipedia geholt. Bücher haben wir auch gelesen, klar… Neben dem unvermeidliche Clarke war das etwas angestaubte, aber sehr detailfreudige Buch August 1914 von Tuchman hilfreich sowie natürlich die Standardwerke von Janz und Krumeich. Ansonsten haben wir viel gegoogelt. Bei letzterem musste knallhart verifiziert werden, denn es gibt so unendlich viel Schrott da draußen …

Ein Blick in die Statistik
So richtig komplett lassen sich dem Analytics-Tool, das Twitter selbst bereitstellt, die Zahlen nicht entnehmen. Ein paar Einsichten gibt es aber doch, die ganz aufschlussreich sind.

  • In der Regel wird ein ganz normaler Texttweet von 1.000 bis 1.500 Nutzern gesehen.
  • Wenn ein Tweet mehrfach retweetet wird, steigt die Sichtbarkeit in der Regel auf etwa das Doppelte: 2.000 bis 3.000 Ansichten.
  • Bilder erzielen generell eine bessere Reichweite (+20–30%) als Nur-Text-Tweets. Eigentlich eine Binsenweisheit, aber trotzdem immer wieder interessant zu sehen.
  • Wenn ich alle verfügbaren Daten zusammenzähle und irgendwie realistisch interpoliere, dann schätze ich, dass wir insgesamt mit den über 5.600 Tweets irgendwas zwischen 15 und 20 Millionen Ansichten erzielt haben.

Following, Unfollowing
Das Followerwachstum hat sich stoßweise entwickelt. Am Anfang gab es binnen zwei Tagen ca 1.000 Interessierte. Dann kam Mitte Januar ein Artikel im schweizerischen Tagesanzeiger, der mehrere hundert neue heranspülte. Dann ging es zunächst mal etwas langsamer weiter. Explodiert ist es am Tag des Attentats, als unsere Tweets hundertfach retweetet wurden. Ähnliches ließ sich Anfang August bei Kriegsausbruch beobachten. Wir möchten an dieser Stelle den vielen Geneigten danken, die uns empfohlen haben: Ohne #FF hätten wir nie die Reichweite erzielt, die wir heute haben.
Es gab natürlich eine Menge Unfollowings. Das ist völlig in Ordnung. Nicht jede/r erhält das, was sie erwartet. Genau Zahlen habe ich nicht, aber ich gehe aktuell von ca 1.500 Unfollowings aus. Insgesamt hätten wir in der gesamten Zeitspanne also +/-7.000 Leute erreicht. Toll.

Wer sind die FollowerInnen?
Die Soziologie der FollowerInnen ist, soweit verfügbar, aufschlussreich. Das Twittertool geht von 85% männlichen Followern aus, was ich aber in diesem Übergewicht etwas anzweifele. Bei den Standorten kommen 9% aus Berlin, 8% aus Wien und je 3% aus München, Hamburg und Zürich. Bzgl der Länder sieht es so aus: 61% D, 14% CH, 12% AUT, 2% NL, 12% Other Countries.
Ich habe mir viele Profile von Followern angeschaut, fast jeden Fav und RT verfolgt. Eines ist mir bei diesem Projekt aufgefallen: sie kommen aus allen politischen Lagern, von rechtskonservativ bis linksradikal findet man alles, selbst bei den Favs und RTs. Ich finde das gut. Eine Ausnahme gibt es: Offen Rechtsextreme habe ich keine feststellen können. Deren Weltbild scheint auch bei diesem Thema ganz anders strukturiert zu sein.

Es gibt inzwischen einige Hardcore-Fans, TwitterInnen, die jeden Tweet von uns gefavt und retweetet haben. Für diese Leute haben wir das gemacht. Ich möchte euch umarmen.

Hat es viel Arbeit gemacht?
Definitiv. Ich habe dieses Jahr keine Urlaubsreise unternommen, fast jedes Wochenende und viele Abende an dem Projekt gearbeitet. Wenn man hochrechnet, dass jeder Tweet etwa 5–10 Minuten Zeit erfordert, kommt man bei 5.600 Tweets auf 60–120 Achtstundentage. Eine realistische Zahl…

Wie geht es jetzt weiter?
Zunächst mal gar nicht. Das Projekt ist beendet. Wir werden allerdings das Twitterarchiv anfordern und versuchen, daraus eine vernünftige Website zu bauen. Denn es ist ja so: Das Werk an sich gibt es in seiner Gesamtheit nur auf Twitter. Die finalen Fassungen der Tweets befinden sich nirgendwo sonst. Wäre alles viel zu aufwändig gewesen. Manchmal haben wir in letzter Minute noch auf Tweetdeck Korrekturen ausgeführt, einzelne Tweets geändert oder hinzugefügt. Auch die über 1.000 Fotos befinden sich nur auf Twitter. Wir werden versuchen, die da wieder runterzuholen und selbst zu hosten. Das wird Neuland sein und wir müssen schauen, wie wir das programmiertechnisch hinkriegen.

Und geht es noch weiter?
Vielleicht 1918 vertwittern? Fände ich sehr spannend. Wer weiß. Denn zwei Erkenntnisse bleiben: Das Interesse in der Öffentlichkeit, sich in dieser Form über historische Ereignisse informieren zu lassen, sie quasi auf einem Echtzeitstrahl zu verfolgen, ist definitiv vorhanden. Und das zweite: Mit einer langfristigen Vorbereitung hätte man es noch wesentlich besser machen können. Besser geht nämlich immer und hinterher ist man zudem schlauer als wir eh schon sind (hh hh h). Auf jeden Fall werden wir ein solches Projekt nicht noch einmal alleine stemmen können. Mal schauen, ich habe da so schon eine Idee…

Habt ihr noch Fragen? Gerne!

Quelle: Ein paar Anmerkungen zum Ende von 1914Tweets via Dirk Baranek.


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